Wer sich in der Arktis aufhält, trifft oft auf verschwiegene Menschen. Für Inuit ist Schweigen eine Tugend, die als Respektbezeugung verstanden wird. Dies versteht sich von selbst, denn in einer Gesellschaft, die auf Jagd aufbaut sind schwatzhafte Menschen bedrohlich. Sie vertreiben das Wild und beeinträchtigen damit die Gemeinschaft. Gelegentlich hat die Verschwiegenheit der Inuit aber andere Gründe, die kulturell bedingten Missverständnissen entspringen. Aus ihnen lässt sich lernen.
Inuit verlassen sich auf die Annahme, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft freiwillig ihre Pflichten zum Wohle der anderen wahrnehmen, dies gilt besonders für das Teilen von Nahrung und Unterkunft. In der bedrohlichen Lebensumgebung der Arktis muss darüber nicht gesprochen oder verhandelt werden. ‚Isuma’, der tiefe Respekt vor persönlichen Gedanken und Ansichten jedes einzelnen, hat zur Folge, dass Inuit selten Forderungen aussprechen, andere Ansichten nicht in Frage stellen und keine Meinung äussern! Sie schweigen. Das betrifft auch die Beurteilung ihrer Kunstwerke!
In der westlich orientierten Kultur hingegen erlangen Ansichten erst dann Gewicht, wenn sie mit anderen diskutiert wurden. Persönliche Meinungen müssen dazu notwendigerweise ausgesprochen und verhandelt werden. Erst das Äussern von Forderungen und Ansichten führt nach westlicher Auffassung zu gemeinsamen Übereinkommen und bindet die Gemeinschaft unter einem gemeinsamen, wortreich geschlossenen Kompromiss.
Das Aufeinanderprallen dieser beiden gedanklichen Konzepte fordert Inuit und Qablunaat (Weisse) bis in die gegenwärtige Zeit. Die ältere Generation der Inuit begreift westliche Aufforderung zum Austausch von Ansichten und Diskussionen als aggressive Missachtung von Respekt. Um ein Gefecht – und sei es nur ein Wortgefecht – zu verhindern, reagieren Inuit mit 'ilira', einem Verhaltenskodex, der sich in widerstandsloser Zustimmung und schweigender Nachgiebigkeit zeigt. Dies sind alte und sehr effiziente Wege, Konflikte zu vermeiden, besonders jene mit Fremden. Keinen Widerstand zu leisten spart zudem Kräfte, die anderswo besser eingesetzt sind. Diesen weisen Pragmatismus haben Inuit von der unerbittlichen Natur der Arktis gelernt, die ihnen jede Eitelkeit und individualistische Selbstbezogenheit verbietet. Das Zurschaustellen eigener Individualität und persönlicher Meinung gilt dort als Dummheit. Westliche zivilisierte Menschen erachten Individualität und eigene Ansichten als Ausdruck einer ausgeprägten Persönlichkeit und es gilt als Reife. Reden oder Schweigen kann also einen grossen Unterschied machen.
Wer der Denkweise der Inuit auf die Spur kommen möchte, kann dies tun, indem er die leise Sprache ihrer Kunstwerke verstehen lernt! Gelegenheit dazu haben Sie jederzeit in der INUIT Galerie am Central! Sie sind herzlich willkommen!
Quelle: Rachel Attituq Qitsualik, 1998
©J.Bromundt, INUIT Galerie, Zürich