nagjuk - der älteste werkstoff der welt
Nagjuk, das Geweih des Karibus, ist der älteste Werkstoff der Inuit. In den entlegenen arktischen Gebieten wurden aus ihm Werkzeuge, Waffen und Idole mit magischer Wirkung hergestellt. Seit einigen Jahrzehnten schaffen Inuit auch Skulpturen aus dem Geweih des Karibus, wobei das Material selbst eine wichtige Botschaft vermittelt: Als natürlich nachwachsende Ressource verkörpert Nagjuk die Regenerationskräfte der lebendigen Natur und ist sichtbare Manifestation jener unsichtbaren Lebensenergie, Inua genannt, die im traditionellen Verständnis der Inuit alle Dinge belebt. In der arktischen Gemeinde Igloolik fand man mehr als tausend Jahre alte, künstlerisch bearbeitete Geweihteile, in deren Oberfläche die Reliefs von mehreren Gesichtern eingearbeitet sind. Auch Kleinskulpturen von Vögeln mit besonderem Ritzdekor oder Bären, die in traditionellem Verständnis magische Bedeutung hatten, wurden in prähistorischer Zeit aus Geweih hergestellt. Diesen Motiven kann man – oft zum verwechseln ähnlich – in zeitgenössischen Kunstwerken von Lucy Tasseor Tutsweetok (1934 – 2012) oder John Ollie (*1920) wieder begegnen, die in der Inuitgalerie präsentiert werden. Arbeiten von Luke Anowtalik (1932 – 2006) erzählen von Ahnen und Geistergestalten, die schemenhaft in den Geweihformationen zu entdecken sind. Kleinformatige Figuren und Tierskulpturen wecken Erinnerungen an magische Idole, welche den Gürteln der Schamanen in längst vergangener Zeit ihre Kräfte verliehen. Tradiertes Wissen ist im Leben der Inuit präsent, denn es ist Teil der Überlebensstrategie in ihrer lebensfeindlichen Umwelt. Die Kenntnisse der Inuit beruhen auf erlebter Erfahrung und überliefertem Wissen. Auch die Kunst der ersten Bildhauer-Generation baut auf einem tradierten Bilderschatz auf, der tief in ihre Vergangenheit zurück reicht und in den zeitgenössischen Skulpturen noch einmal Form annimmt. Wer dies beobachtet, wird ohne zu zögern dem folgenden Ereignis Glauben schenken:
Im Sommer 1861 begegneten Inuit auf Cape Dorset einem amerikanischen Forscherteam und berichteten präzise Ereignisse, die sich bei der ersten Arktisexpedition des englischen Seefahrers Martin Frobisher im 16. Jahrhundert ereignet hatten. Dies verblüffte die Zuhörer, denn die geschilderten Vorfälle lagen zur Zeit der Berichterstattung bereits 300 Jahre zurück. Am Wahrheitsgehalt der Aussagen der Inuit zweifelte aber niemand, denn diese hatten Gegenstände aus dem Besitz der damaligen Entdecker dabei, die über dreihundert Jahre lang in ihren Sippen weitergegeben worden waren.
Überlieferungen der Inuit gelten als aussergewöhnlich zuverlässig. Von diesem Geist sind auch ihre Kunstwerke inspiriert! Sie erinnern an den universellen Ursprung der Kultur und führen zurück in eine Zeit, in welcher der Atem Inuas noch hörbar war.