karibu-mutter: tuktut ikviat
Ohne Karibus hätte es bis vor fünfzig Jahren für Inuit kein Überleben in der Weite der arktischen Tundra gegeben. Dies gilt besonders für jene Inuit, die im Inland lebten und nur selten Küstengebiete aufsuchten. Die sogenannten 'Karibuinuit' waren traditionellerweise auf das ständig wandernde Tier angewiesen. Für den Stamm der Ahiarmiut galt dies bis in die 60er Jahre hinein. Die Menschen waren nicht nur den launenhaften Naturgewalten ausgesetzt, sondern auch den Launen der Herden, ihrer Geister und dem Willen von Karibu-Mutter. Sie ist es, welche ihre Wohnstatt inmitten der grossen Herden hat und jedem einzelnen Tier gleichermassen innewohnt. Sie prägt den Charakter der Bullen, Kühe und Kälber und bestimmt, ob sie sich dem Jäger hingeben und sich töten lassen oder ob sie entkommen.
Karibu-Mutter beaufsichtigt die Einhaltung der Jagdtabus: Nicht mehr Tiere dürfen erlegt werden als notwendig sind und ihre Überreste müssen zeremonielle Behandlung erfahren. In manchen Stämmen verleiht Karibu-Mutter auch dem Schamanen seine Kräfte und sie ist es, die auf seine Bitte hin, Tiere in Tundra aussendet. Denn Karibu-Mutter ist die Schöpferin von tuktu, dem Karibu, und lenkt seinen Willen.
Ein Mythos erzählt: «In jener Zeit, als Meerestiere entstanden, gab es keine Karibus. Aber dann ging eine alte Frau in die Tundra und machte sie. Ihr Fell machte sie aus Ihren knielangen Hosen und auch der Strich des Felles folgte jenem ihrer Hosen. Dann bekam das Karibu Zähne wie alle Tiere, zu Beginn hatte es auch Stosszähne. Es war ein gefährliches Geschöpf und bald schon wurde ein Jäger auf der Jagd getötet. Da bekam die alte Frau es mit der Angst zu tun. Sie ging wieder in die Tundra zurück und versammelte alle Karibus, die sie gemacht hatte. Die Stosszähne machte sie jetzt zu Geweihen, die Vorderzähne im Kieferschlug sie ihnen aus1 und sagte dann zu ihnen: «Landtiere, so wie ihr seid müsst ihr euch vor Menschen fern halten, seid scheu und schreckhaft.» Und dann gab sie ihnen einen Schlag auf die Stirn. Dies verursachte eine Delle auf ihrer Stirn, die man heute noch am Schädel jedes Karibu sehen kann. Die Tiere stoben in alle Richtungen auseinander und waren fortan sehr scheu. Aber dann stellte sich heraus, dass die Karibus zu flink waren, kein Mensch konnte ihnen folgen. Und einmal mehr rief die alte Frau alle Karibus zusammen, die sie gemacht hatte. Jetzt änderte sie das Aussehen des Fells, so dass der Strich nicht überall gleich verlief. Das Haar am Bauch, unter dem Hals und an den Flanken liess sie in verschiedene Richtungen fallen und dann entliess sie die Tiere erneut. Die Karibus waren noch immer flink, doch sie konnten dem Gegenwind nicht so leicht trotzen wie zuvor, weil die Haare des Felles im Weg waren, und die Menschen konnten sie überwältigen und töten, wenn sie einige Tricks anwandten. Dann aber machte sich die alte Frau auf den Weg, um unter den Karibus zu wohnen. Sie blieb bei ihnen und kehrte nie wieder zu den Lagern der Menschen zurück. Und jetzt nennt man sie Mutter der Karibus, tuktut ikviat.»
Der Mythos schildert die Bedeutung der Tiere, die im Leben der Inuit, insbesondere der Ahiarmiut, bestimmend waren und bis heute noch sind. Ihm verdankten Inuit über Jahrhunderte nicht nur ihre Nahrung, sondern auch ihre Kleidung, ihre Gerätschaften, Waffen, ja sogar Wärme und Licht, das von ihrem Fett in den Quliks brannte.
Auch der Jahreskreis der Ahiarmiut folgt exakt den Wander- und Entwicklungszyklen der Karibus. Er beginnt im April, wenn die ersten Tiere zur ihrer Wanderung nach Norden aufbrechen. Jan van den Steenhoven hat dies 1955 wie folgt aufgezeichnet:
Ende April / atervik: ‚wenn sie (die Karibus) herunterkommen’
(Die Tiere beginnen ihre Wanderung aus den Wäldern der Treeline im Süden nach Norden)
Juni / avitark: ‚der Geteilte’
(Ein Monat mit schneebedeckten und schneefreien Landzonen)
Juli / kanralek: ‚die zwei Arten von Fell’
(Das Sommerfell der Karibus wächst, während das Winterfell in Ballen abgestossen wird)
Mitte Juli / aitan: ‚der, mit den offenen Mündern’
(Die Jungvögel in ihren Nestern)
August / tuktunigvik: ‚wenn die Karibus kommen’
(Beginn der Wanderung der Herden von der Tundra ins südliche Waldgebiet)
September / akuglerorvik: ‚wenn sie (Karibus) mittleres Fell besitzen’
(Die beste Jagdzeit für Felle)
Ende September / amarajarvik: ‚wenn die Geweihe den Bast verlieren’
Oktober / nikliharvik: ,wenn es kalt wird’
November / nuliarvik: ‚wenn sie sich paaren’
(Brunftzeit der Karbus)
Dezember / katagarivik: ‚wenn die Bullen den Bast abschaben’
Januar / avungnivik: ‚der mit den Fehlgeburten’
(in der kalten Jahreszeit überleben viele Kälber nicht)
Februar-März / tarkenark: ‚der namenlose Mond’
(Der härteste und gefährlichste Monat für die Menschen, wenn Hunger und Kälte regiert.)
April / tukiliarvik: ‚der, in welchem sie (die Karibus) aufbrechen.
(Die Herden sammeln sich, haben aber die Wanderung noch nicht begonnen. Sie stehen alle nach Norden gerichtet, in der Richtung, in welcher sie später zur Wanderung aufbrechen.)
Mai / imingnarkrivik: ‚wenn die Dächer einfallen’
(Die Sonne schmilz die Iglus)
© J.Bromundt, Inuitgalerie, Zürich
[1] Karibuschädel zeigen eine auffallende Delle zwischen den Augenhöhlen. Ausserdem haben sie keine Zähne im vorderen Teil des Kiefers.
Quellen:
J. van den Steenhoven, 1962
D. Merkur, 1991