Kakiniit: Inuit Tattoos
Im Jahre 2002 ging mit der letzten Inuit Tätowiererin in Alaska das Wissen um den authentischen Hautschmuck der Inuitfrauen verloren. Doch ältere Inuit kennen aus Erzählungen der vorausgegangenen Generation die Hintergründe dieser faszinierenden Kunst. Arktische Tattoos waren lebendige Symbole ihrer animistischen Kultur. Sie waren sichtbare biographische Marker. Die eingestochenen Zeichen auf der Haut der Frauen waren Kommunikationsmittel mit der transzendenten Welt der Geister, waren Schmuck und Sinnbild für die Lebenszyklen. Aus Baffin Island sind Tätowierungen als Reinigungsrituale und zur Befriedung von übernatürlichen Wesen überliefert. Die Motive waren ein Bindeglied zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft. Sie zeigten an, dass eine junge Frau in der Lage ist, Lampenfett für den Qulliq bereitzustellen, zu nähen und Wasser herbeizuschaffen.
In der Netsilik-Region wurden bereits Kinder tätowiert, umfangreicher als anderenorts in der Arktis. 2010 verstarb die letzte Trägerin von Netsilik Kakiniit, Mary Karoo, in Taloyoak. Dieser Verlust rüttelte junge Inuitfrauen in Kanada auf. Eine von ihnen, Alethea Arnaquq-Baril, machte sich auf den Weg, die Geschichte der Tätowierungen in der Arktis filmisch zu dokumentieren und löste damit eine Renaissance der längst vergessenen Kunst aus, die mittlerweile alle arktischen Gemeinden erfasst hat!
Einer der ältesten Funde, der die Existenz von Gesichtstätowierungen bezeugt, ist eine 3500 Jahre alte Maske, die auf Devon Island ausgegraben wurde. Sie zeigt die charakteristischen linearen Tätowierungen im Gesicht, die Jahrhunderte in der zentralarktischen Region eingesetzt wurde und an welche auch Inuit-Bildhauer der Gegenwart in ihren Skulpturen immer wieder erinnerten, wie die abgebildeten Beispiele aus der Galerie zeigen. Die ältesten überlieferten Gesichtstätowierungen aus Alaska entsprechen exakt jenen, die um 1880 noch in Ostgrönland angewendet wurden. So lassen sich auch Migrationsbewegungen der Inuit allein durch die regional unterschiedlichen Motive der Tattoos festmachen. Der erste Forscher, der Tätowierungen der Arktis aufzeichnete war der englische Entdecker Martin Frobisher. 1576 schrieb er folgende Beobachtungen in der Bucht bei Iqaluit auf, die heute seinen Namen trägt: «Die Frauen sind in ihren Gesichtern gezeichnet mit bläulichen Strichen entlang den Wangen und um ihre Augen. Ebenso ritzen (oder durchstechen) einige Frauen ihre Gesichter gleichmässig an Kinn, Wangen und Stirn; auch an den Handgelenken, wobei sie eine Farbe von dunklem Azurit auftragen.»
In Tat und Wahrheit bestand der Färbestoff aus Russ, der mit Urin vermischt auf eine Karibusehne aufgetragen und mittels einer Knochennadel unter der Haut durchgezogen wurde, so dass die Farbe als bläuliche Linie zurück blieb. Der Urin sorgte für die Desinfektion. Ein anderer Vorgang war das Punktieren, bei dem die Haut eingestochen und die Wunde anschliessend gefärbt wurde. Alle Prozeduren waren und sind schmerzhaft, besonders im Gesicht. Doch Russ galt bei gewissen Inuitgruppierungen als hochwirksames Mittel gegen Geister und Dämonen. Von manchen Schamanen in Alaska ist überliefert, dass Lampenruss zur Zeichnung eines Bannringes um die Wohnstätten verwendet wurde und apotropäisch war.
Inuitfrauen der kanadischen Arktis, besonders in der Netsilik-Region, tätowierten im Verlauf ihres Lebens auch Arme, Beine und besonders die Oberschenkel. Die über die Haut der Beine gelegten feinen Ornamente, die vom Ethnologen Bernard Saladin d’Anglure auch als «lebendige Stickereien» bezeichnet wurden, sollten einem Neugeborenen einen zauberhaften ersten Anblick der Welt ermöglichen.
Ältere Frauen, die im Nähen von Parkas und Kamiks erfahren waren, galten als respektierte Tätowiererinnen. Die Kunst war üblicherweise eine Sache der Frauen. Zeichen, die im Zusammenhang mit schamanistischen Praktiken eingesetzt wurden, verschwanden bei der Ankunft der Missionare in Kürze. Man bezog sich auf die Bibelstelle Levitikus 19,28 «Ihr sollt euch keine Einschnitte machen am Leib eines Toten wegen und ihr sollt euch keine Zeichen einritzen.»
Das derzeitige Revival der ausgestorbenen Tradition des Kakiniit wird interessanterweise ebenfalls von jungen Frauen getragen. Die junge Filmerin Alethea Arnaquq-Baril dokumentierte ihre Suche nach der Tradition 2010 in einem bewegenden Film: «Tunniit. Retracing the lines of Inuit Tattoos». Am Ende ihrer Recherche entschied sie sich selbst für eine traditionelle Gesichtstätowierung, die ihre Identifikation mit den Wurzeln ihrer Herkunft festigte. Seither ist eine Renaissance im Gange, welche die gesamte kanadische Arktis erfasste. Junge Frauen lassen sich die Zeichen ihrer Grossmütter ins Gesicht ‚schreiben’, bringen sich gegenseitig die klassischen Tätowiertechniken bei und dokumentieren damit ihre tiefe Verbundenheit mit ihren Wurzeln als Inuk.
Nachdem die mittlerweile bekannt gewordene Tätowiererin Angela Hovak Johnston kürzlich ihre Nichte Millie Angulalik mit traditionellen Gesichtstätowierungen versah, sagte die junge Frau: «Meine Mutter und mein Vater ... sie sind da, mitten in meinem Zentrum. Sie werden jetzt für immer bei mir sein und mich durch den «Inuk way of life» führen. Es ist so kraftvoll ich bin dankbar, dass meine Nichte das gemacht hat. [...] Ich war immer schon Inuk, aber das ist jetzt richtig Inuk, verstehst Du? Ich liebe es, ich bin so stolz, dass ich es gemacht habe. Ich bin jetzt stark, um in meinem Leben vorwärts zu gehen.» Die lebendige Kraft traditioneller Zeichen hat, wie es scheint, in der Arktis ihr traditionelles Wirkungsfeld wiedergewonnen.
© 2018 J.Bromundt, Inuitgalerie, Zürich
Quellen:
Krutak, Lars: Tattoos oft he Hunter-Gatherers in the Arctic, 2000
Juanita Taylor für CBC News, Mai 2016: «This is so powerful: Kitikmeot women revive traditional Inuit Tattoos», 2016
Alethea Arnaquq-Baril: Tunniit. Retracing the lines of Inuit Tattoos, 2010 (Dokumentarfilm)