Inummarik
Inummarik ist die Bezeichnung der Inuit für eine eigenständige, authentische Person. Eine solche zu werden ist im Verständis der Inuit ein lebenslanger Prozess. Er äussert sich im angemessenen Einsatz von Fähigkeiten, im Umgang mit Menschen, Tieren und der Umwelt. Das Gesellschaftskonzept «Inummarik» unterscheidet sich wesentlich von der westlichen Idee einer eigenständigen Person.
Identität ist im Verständnis der Inuit dynamisch und progressiv und geht nicht davon aus, dass es beständige persönliche Eigenschaften oder ein dem Menschen innewohnendes Selbst gibt. Individualität wird ständig geformt und erzeugt und ist veränderlich. Das Identitätsverständnis der Inuit geht damit nicht von Selbstverwirklichung und Autonomie aus,wie es die Konzepte des westlichen Denkens kennen, sondern reife Identität wird als Anpassungsprozess verstanden, den eine Person in ihrer Gemeinschaft durchläuft und der wiederum von dieser ausgeht. Aus diesem Grund wird von einer abwesenden Person (idealerweise) nie ein Verhalten der Vergangenheit thematisiert, weil es momentan und veränderlich ist.
Die Gemeinschaft prägt den Einzelnen und er entwickelt sich nicht unabhängig von ihr. Somit sind Inummariit (pl.) in ihrem Verhalten grosszügig, jedoch nicht aufgrund «persönlicher Grösse», sondern aus der Notwendigkeit heraus, ihre Identität durch angemessenes Verhalten in der Gemeinschaft zu bewahren. Die gesamte Gemeinschaft prägt den einzelnen und dieser wiederum die Gemeinschaft in ihrer Umwelt.Vor diesem Hintergrund konnte Betsy Annahatak 1985 sagen, «The North cannot be lived by one person.»
Das Verhalten von Inummariit hält eine ruhige, tolerante Distanz anderen gegenüber ein, bringt negative Gefühle wie Ärger nicht zum Ausdruck, mischt sich nicht in andere Angelegenheiten ein und kooperiert mit unlösbaren Situationen. Das Verhalten des Inummarik äussert sich damit in der Art zu arbeiten, zu sprechen, zu gehen und – was als sehr wichtig erachtet wird – in der Art zu essen.
Prahlerei und Angebertum wurden in der traditionellen Inuitgesellschaft als schlechtes Benehmen betrachtet, da sie Licht auf den geringeren Erfolg anderer werfen. Im Verständnis der Inuit entzogen sich Tiere absichtlich dem Jäger und seiner ganzen Familie, wenn er prahlte. Mit dem Auftreten westlicher Spiele und Wettkämpfe wurde der kompetitive Aspekt aber auch in der Inuitgesellschaft üblich, dennoch ist das Prahlen über Erfolge noch heute ungern gesehen.
Die Reife des Inummarik zeigt sich in der Fähigkeit, sich selbst erhalten zu können und die Herausforderungen des Lebens anzupacken. Gleichzeitig wird Reife auch in der Geduld und der Fähigkeit erkannt, Gegebenheiten zu akzeptieren, wie sie sind, aufgeben zu können, wenn es hoffnungslos ist oder warten zu können, bis notwendige Bedingungen passen. In diesen Haltungen liegt ein Widerspruch – doch nur aus westlicher Perspektive. Inuit betrachten sich als Teil des Systems, mit dem sie kooperieren und das die Regeln vorgibt. Herausforderungen anzupacken kann für Inuit unter Umständen heissen, zu warten oder aufzugeben. Westlich denkende Individuen begreifen sich als autonom und übersehen gerne ihre Abhängigkeit vom System, (die idealerweise minimal gehalten wird). Sie gehen davon aus, dass der einzelne die Regeln vorgibt, die ihn zum Lebenserhalt befähigt und er dafür verantwortlich ist. Diese Haltung duldet Aufgeben kaum und geht davon aus, dass man sich nicht an Gegebenheiten anpasst, sondern sich diese passend macht.
Die Fähigkeit der Inuit, Neuerungen in ihre Gesellschaft aufzunehmen ist eine wesentliche Auswirkung des gesellschaftlichen Inummarik-Konzeptes. Da Inuit Persönlichkeit nicht als festgefügt und unveränderlich, sondern als dynamischen Vorgang innerhalb der Gemeinschaft begreifen, sind sie in der Lage, sich in kürzester Zeit anzupassen und sich auf neue Bedingungen einzulassen. Aus dieser Sicht ist es zu verstehen, dass Menschen, die noch vor 40 Jahren den Gesetzen der steinzeitlichen Jäger-und Sammlergesellschaften gehorchten, wie die Ahiarmiut, heute mit digitalen Medien umgehen. Das Prinzip von Inummarik ist bis heute wesentlich für die Inuitgesellschaft, kollidiert jedoch mit den westlichen moralischen Konstrukten wie «gut und böse», oder mit der westlichen Gesetzgebung, die dem traditionellen Verständnis der dynamischen, von der Gemeinschaft geprägten Persönlichkeit, keine Rechnung trägt.
©J.Bromundt, Inuitgalerie 2017
Quellen: The Inuit Way, 2006 /Stairs, A., in: «Ethos», Vol 20, 1992