inugarulligait - kleine Leute

Die Darstellung menschengestaltiger Figuren ist in der Kunst der Inuit naheliegend und verbreitet. Szenen des täglichen Lebens sind in der Bildhauerei der Inuit weit verbreitet. Gelegentlich jedoch täuschen die Szenen. Nicht selten verkörpern die menschengestaltigen Miniaturen Geschöpfe aus der arktischen Geisterwelt, die unter der Hand der Künstler in die sichtbare Welt treten. Das gilt besonders für jene zwergenhaften Wesen, die von den Inuit als Inugarulligaq bezeichnet werden. 

Nach der Überlieferung der Inuit ist die äussere Welt, silarjuaq, bevölkert mit menschenähnlichen Geistern, die alles kontrollieren, was das Land ausmacht: Hügel, Täler, Flüsse, Vegetation, Himmel und Meer. Alle diese Geister besitzen Bewusstsein, Intelligenz und Gefühle. Sie können sich Menschen gegenüber offenbaren oder unsichtbar bleiben. Dann jedoch hinterlassen sie Fussspuren und nur die Hunde sind in der Lage, ihre Anwesenheit zu wittern.  Der mächtigste dieser Geister ist Silaap inua, der Geist der Luft und der Atmosphäre. Der Legende nach ist er das Kind zweier menschengestaltiger Zwerge. In der Inuit-Mythologie existieren sie in verschiedener Form: Schattengeister, tarriassuit, und vollkommen unsichtbare Menschen, ijirait, oder Winzlinge, die ihre Grösse anpassen und manchmal riesenhaft erscheinen. Menschen können mit diesen Wesen enge Bande aufbauen, ja sie sogar zu ihren Ehepartnern machen, was allerdings als sehr gefährlich gilt.

Romano Aupilaarjuk berichtet 2001 von der Begegnung seines Vaters mit einem menschenförmigen Zwerggeist: «Mein Vater begegnete einmal einem Inugarulligaq ... ich bin ganz sicher, dass es sie auf dem Land noch gibt, wir sehen sie einfach nicht. Eines Tages war mein Vater auf einem Hügel und lag auf dem Bauch, um den Horizont mit seine Fernrohr abzusuchen. Er glaubte, etwas gesehen zu haben und als er sich drehte, um nachzusehen sah er etwas, das aussah wie eine kleine Person. Er hatte keine Angst vor ihr. Das Wesen begann, meinen Vater von den Füssen her zu mustern bis es im Gesicht ankam. Es sagte meinem Vater, er solle einen schmalen langen Stein nehmen und ihn auf einen anderen legen. Er wollte gar nicht erst versuchen, den Stein zu heben, da er glaubte er könnte ihn nicht heben. Aber das Wesen insistierte. Als mein Vater den Stein  anhob, war er sehr  leicht und er setzte ihn aufrecht auf einen anderen Stein. Das Wesen sagte meinem Vater er solle seinen Verwandten sagen, sie sollen kommen und den Fels ansehen, wir sind aber nie hingegangen.»

Gewisse Figuren der Inuit verkörpern jene zwergartigen Geister, die allerdings sehr gross erscheinen, wenn man sie von den Füssen an aufwärts betrachtet... Andere Werke, wie jene von John Pangnark und Lucy Tasseor, die  schlichte Werkstücke mit einem kleinen Gesicht versehen, werden zu lebendigen Steinen, deren Persönlichkeit den Betrachter gefangen nimmt. Die dem Stein innewohnende Geistgestalt, Inua, erwacht damit zum Leben, tritt mit dem Betrachter in ein Zwiegespräch und bezaubert ihn.

©JB, INUIT Galerie, Zürich

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