franz boas (1858-1942)

Als Der junge Ethnologe Franz Boas mit 24 Jahren beschloss, eine Reise in die Arktis zu unternehmen, war seine Faszination am hohen Norden schon lange entwickelt. Mit seinem Diener Wilhelm Weike bestieg er im August 1883 im Hamburger Hafen ein Schiff, um in das Land seiner Sehnsucht zu gelangen. Er nannte es in seinen Schriften «Baffinland», das heutige Baffin Island. Die Expedition wurde vom «Berliner Tagblatt» und privaten Geldgebern finanziert und Boas lieferte als Gegenleistung regelmässige Berichte an die Zeitung. Ein Transkript des ersten Artikels, der am 4. August 1883 erschien, lesen Sie hier:

 

Berliner Tagblatt – 4. August 1883

 Ins Eismeer!

 Bericht für das Berliner Tagblatt. Reisevorbereitungen*

*Anmerk. d. Redaktion des Berl. Tagebl. Wir beginnen mit dem obenstehenden Aufsatze heute die Berichte über die Polarreise des Herrn Dr. Boas, über welche wir schon unsern Lesern Mittheilungen machten. Derselbe hat sich bekanntlich am 22. Juli 1883 an Bord der Germania nach dem Cumberland-Sunde begeben, um ein Jahr unter den dortigen Eskimos zu leben und Forschungsreisen in das unbekannte Innere zu machen. Nachdem die Germania glücklich die Nordspitze Schottlands passirt hat wird sie hoffentlich wohlbehalten in Kingua ankommen, von wo sie die deutsche Polarstation zurückbringt. Wir dürfen hoffen, noch in diesem Herbst Berichte von Herrn Dr. Boas mit der Germania und eventuell mit amerikanischen oder schottischen Walfischfängern zu erhalten, während später bis zum Jahre 1884 die Verbindung mit dem Cumberland-Sunde wegen des Eises geschlossen ist. 

«Da sind wir nun endlich an Bord! Die lange Zeit des Ueberlegens und der Plage ist vorbei, und hinaus geht es in das weite Meer! Und da nun die letzten Freunde Abschied genommen haben, da das Land mehr und mehr dem Blicke entschwindet, drängt sich wohl die Frage auf, sind wir nun wohl gerüstet, haben wir die kostbare Zeit nicht ungenutzt verstreichen lassen? Aber unwillkürlich blicken wir auf die Schätze, die im Raume des Schiffes aufgehäuft liegen und uns den Weg durch die Eisgefilde des Nordens bahnen, den langen kalten Winter ertragen helfen sollen. Nun endlich ist der ersehnte Augenblick der Abfahrt da. Wie weit ist der Weg von dem ersten Plane zur Reise bis zur gewissen Ausführung! Was gibt es da zu bedenken, zu überlegen, ehe alles bereit ist! Wenn man erwägt, was es heißt, für ein ganzes Jahr lang auf eigene Hilfsquellen angewiesen zu sein und nichts, gar nichts aus der Heimath erhalten zu können, dann kann man sich etwa vorstellen, wie sorgfältig Alles und Jedes durchdacht sein will. Doch schon vor diesen Sorgen tritt die gewichtige Frage heran, wie hinkommen an die eisumlagerte Küste, die das Ziel unserer Reise ist? Die westliche Küste der Baffin Bay wird jährlich von einer Zahl Walfischfänger besucht, welche schon im März hinausgehen, um dem Fange an der Eiskante obzuliegen. Wenn das Packeis sich öffnet, gehen sie weiter nach Norden hinauf, um den Fischen zu folgen und kehren im Herbste nach Schottland und Amerika, wo die Rhedereien sich befinden, zurück. Andere, besonders amerikanische Walfischfänger, gehen im Sommer gen Norden, wo sie überwintern und zwar meist im Cunberland Sund und in den westlichen Theilen der Hudson Bay. Sie bleiben ein oder mehrere Jahre aus und betreiben im Herbst und Frühling den Fang oder den Handel mit den Eskimos, von denen sie Thran, Felle und Elfenbein eintauschen. Der erste Gedanke war natürlich, eines dieser Schiffe zu benutzen, doch hat die Passage an Bord der im Frühjahr aussegelnden Walen das Bedenkliche, dass man nicht sicher sein kann, irgendwo das Land zu erreichen, sondern möglicherweise gezwungen sein mag, nach Hause zurückzukehren, ohne die Küste betreten zu haben. Auch gegen die später ausgehenden Schiffe erhoben sich manche Bedenken, die sich aber mit einem Schlage dadurch lösten, dass ja die Germania, das Schiff der deutschen Polarkommission, sich in diesem Sommer nach Norden begeben musste, um die deutsche Station im Cumberland Sund zurückzuholen. Bald war die Erlaubniß erlangt, aus diesem Schiffe mit nach Kingua Fjord, der Station im Cumberland Sund, zu fahren und es war ein wichtiger Fortschritt gemacht; zunächst war eine Gelegenheit gefunden, nach Norden zu gelangen, und ferner bot die deutsche Station einen wichtigen Stützpunkt für alle weiteren Arbeiten. Nun , da die ersten vorbereitenden Schritte gethan waren, um die Reise ins Werk zu setzen, handelte es sich um mancherlei Erkundigungen über die Verhältnisse des zu bereisenden Gebietes, die nicht immer leicht zu erlangen sind, aber eine unbedingte Voraussetzung für alle Unternehmungen bilden. Da ist denn die umfangreiche Literatur zu durchforschen und zu durchsuchen, es sind Adressen von den verschiedensten Leuten, die irgendetwas über dieses Gebiet wissen können, aufzusuchen und Korrespondenzen über alles Mögliche zu eröffnen. Da kommen Briefe zurück, weil die Adressaten verstorben oder in die entlegensten Theile ferner Welttheile verschlagen sind; doch allgemach schliesst sich eines an das andere und das Bild des Landes und seiner Hilfsmittel beginnt klarer zu werden. Die wichtigste Kundschaft bringen natürlich die Walfischfänger und die erfreulichste ist die, dass sich eine schottische und eine amerikanische ständige Handelsstation im Lande befinden, die einen neuen Stützpunkt bieten. Durch die Güte der Handelshäuser erlangten wir endlich Empfehlungen an die Vertreter derselben und haben nun dem Unternehmen einen möglichst festen Halt gegeben. Auch für die Sicherheit der Rückkehr müssen jetzt schon Vorkehrungen getroffen worden und daher müssen alle Rheder, welche Schiffe in dieses Gebiet entsenden, von dein Unternehmen wissen, um für die Rückkehr sorgen zu können. Wenn nun so weit Alles geordnet ist, beginnt die schwierige Ausrüstung zur Reise. Was ist da nicht Alles zu bedenken! Proviant, Kleidung, Instrumente, Fortbewegungsmittel, Gewehre und Munition und all die Kleinigkeiten, die im täglichen Leben tausendfach benutzt, doch so leicht übersehen werden. 

Und dann kommt die angenehme Zeit, wo von allen Seiten die guten Freunde Rathschläge ertheilen, die man mit Engelsgeduld immer und immer wieder anhören muss. Der eine fürchtet beständig, man möchte die Taschentücher vergessen, der zweite räth gar zum Regenschirm, einem dritten ist besonders an den Bleistiften gelegen, und so muss das arme Opferlamm von allen Seiten den gut gemeinten Rath hinnehmen. Doch das ist erst eine Plage! Wehe ihm! lässt er sich irgendwo unter Bekannten sehen. Ueber nichts, wird er gefragt, als über die bevorstehende Reise. Das fremde Land, das er bereisen will, ist das einzige, über das man ihm erlaubt zu sprechen, und denkt er je etwas Anderes, so wird er mit eiserner Strenge von einem neuen Frager auf den vielbegehrten Gegenstand zurückgeführt. Da bleibt schliesslich nichts Anderes übrig, als mit guten Freunden ein furchtbares Gelöbniss zu thun, nie das Wort „Eskimo" über die Lippen zu bringen! So erlangt er doch einen Theil seiner Ruhe wieder. Auch bei der Beschaffung und Auswahl der Instrumente hat er mancherlei zu leiden. Da kommt der Eine mit diesen Wünschen, der Andere mit jenen. Dieser möchte Steine mitgebracht haben, Jener Pflanzen, ein Dritter Vögel, ein Vierter macht auf eine ihm besonders interessante Erscheinung aufmerksam, und so geht es weiter, bis dem Armen der Kopf wirbelt, und — er schließlich doch thut, was er nicht will. Wohl ist es eine schwierige Arbeit, die geeignetsten Instrumente auszusuchen, und nur zu leicht begeht man damit Fehler, indem man sich zu sehr belastet. 

Vor Allem sind in unbekannten Ländern die astronomischen Instrumente unentbehrlich, welche die Bestimmung des Ortes der Erdoberflüche, auf welcher man sich befindet, ermöglichen. Zu weiteren Landesaufnahmen folgen die geodätischen Apparate und der wichtige Helfer bei allen Forschungen, der photographische Apparat. Ferner gehören metereologische Instrumente zu jeder Ausrüstung, dem Ethnographen sind anthropologische Messapparate unentbehrlich, und ihnen folgt noch das Heer der Pflanzenpressen, Fanginstrumente für Thiere, Gläser zum Sammeln u. f. w. und die kleine Fachbibliothek. Alle diese Instrumente müssen bestellt und untersucht werden, denn wehe dem, der sich nur auf den Mechaniker verlässt und seinen Instrumenten ohne Prüfung traut; dessen Resultate möchten sehr wenig werthvoll sein und gerechtem Bedenken begegnen. Und sind die Instrumente beschafft, so geht es an die Verproviantirung und Kleidung. Für ein ganzes Jahr Proviant! Man denke, welche Summen ein Mensch in einem Jahre verzehrt, und diese sollen alle jetzt beschafft werden. Aber auch aus das Klima muss man Rücksicht nehmen. Nicht überall harrt die gleiche Nahrung, und Fleisch, viel Fleisch ist im hohen Norden die Loosung! Da ist es immer noch leicht, die Verproviantirung einer Station auszuführen. Wie aber, wenn man auf Reisen geht? Es ist nicht möglich, in den erstarrenden Norden für lange Monate Proviant mitzunehmen, da derselbe für die Fortbewegungsmittel viel zu schwer würde, und es bleibt daher nichts übrig, denn als Eskimo mit den Eskimos zu leben, mit ihnen zu jagen und zu fischen, ihren Gebräuchen zu folgen, kurz, ihre Sitten sich ganz anzueignen. Aber der Sicherheit halber nehmen wir vollen Proviant mit, um dann im Nothfalle auf diesen zurückgreifen zu können. Und diese Auswahl macht uns keine große Noth. Die Schiffsausrüstungsgeschäfte haben so vortreffliche Erfahrung in solchen Dingen, dass man ihnen ganz vertrauen darf und ihnen ruhig die Aufstellung der Liste über lassen kann. Schon mehr Sorge erregt die Beschaffung von Kleidungsstücken. Schwere wollene Kleidung für Herbst und Frühjahr, Pelze für den Winter sind unbedingt nothwendig. Daher versehen wir uns mit einer Kleidung, wie sie die Matrosen gebrauchen, als leichterer Kleidung. Die Pelzanzüge, welche bei uns gearbeitet werden, sind nicht praktisch genug, es ist vernünftiger, sich gleich bei der Ankunft die Pelzsachen von Eskimos arbeiten zu lassen, die gern für ein Geringes dem Fremden ihre Hilfe bieten. Besondere Sorgfalt erheischt vor Allem die Fussbekleidung. Im kalten Winter ist es nicht gut, Lederstiefel zu tragen, und man wählt statt deren moosgefütterte Segeltuchstiefeln, die über Pelzstrümpfen gezrogen werden und aussen mit Seehundsfell überzogen sind. Auch das Gesicht bedarf eines wärmenden Schutzes, wenn es Kälte von weit mehr als 30° widerstehen soll. Gestrickte Masken und grosse Bashlikmützen lassen sich hierfür mit Vortheil verwenden. Solchergestalt ist die Ausrüstung eines Polarreisenden, die nun wohl verstaut im Raume des Schiffes ruht. Ein unentbehrliches Hilfsmittel ist noch das leichte Boot, das zugleich als Schlitten über Eis und Schnee gezogen werden kann. Diese schwere Last kann aber nur zu stationärem Aufenthalte gebraucht werden. Sobald der Reifende sich in das Land begeben will, muss er wohl oder übel sich auf das Allernothwendigste beschränken, und die reiche Erfahrung, welche man im Laufe der Zeit auf Schlittenreisen gesammelt hat, erlaubt, dieselben jetzt verhältnismässig einfach auszurüsten. Die Hauptsache ist der Schlitten mit den Zughunden, der das Gepäck der Reisenden trägt. Waffen und Munition, ein wenig Reservekleidung, Proviant und Instrumente finden ihren Platz darauf. Doch ist der Proviant nicht dazu da, gleich gegessen zu werden. Nur im höchsten Nothfalle ist es erlaubt, ihn anzugreifen; im Uebrigen muss der Erfolg der Jagd die Reisegesellschaft ernähren. Zum Kochen und Braten dient eine Spiritus-Kochmaschine, die ebenfalls mitgeführt werden muss. Im Sommer schläft man in Zelten, im Winter in Lehmhütten, welche die begleitenden Eskimos erbauen. So ist auf Reisen der Verbrauch von Allem und Jedem auf ein Minimum beschränkt, um den Reisenden nicht zu belasten und ihm möglichst grosse Beweglichkeit zu geben. Also gerüstet gehen wir nun hinaus in die weite Welt. Glück, geleite uns! 

Fahrt der „Germania" durch die Nordsee. Am Freitag, den 22. d. MtS., Morgens um 2 Uhr, verliessen wir, gegen eine frische nordwestliche Brise ankämpfend, die Rhede von Kuxhaven am Tau des Schleppdampfers Helgoland, der uns in See hinausbugsirte. Gegen 5 Uhr schied der Lootse, der die letzten Briefe an Land mitnahm, und am 6., als uns der Dampfer seine Kraft entliess hissten wir Segel und steuerten, auf uns selbst angewiesen, hinaus in die weite See. Bald kam der rothe Fels von Helgoland in Sicht, und  hinderte ein widriger Wind jede weitere Annäherung, so dass wir  gezwungen waren, in der Helgolander Bucht zu kreuzen. Wir steuerten daher Freitag Nachmittag nach Westen, an der Weser vorbei und  entlang den ostfriesischen Inseln, wo wir gegen 8 Uhr uns etwa 6 Seemeilen NO. von Norderney befanden. Hier trafen wir eine Flotte englischer Fischer, welche unter der deutschen Küste unbefugter Weise ihr Handwerk treiben und ihren täglichen Fang durch Dampfer von England abholen lassen. Am Sonnabend Morgen gelangten wir wieder in Sicht von Helgoland, das nun nordöstlich zum Vorschein kam. Als der Wind gänzlich aufhörte, mussten wir den Tag über in Sicht der Insel hin und her treiben und kreuzen, bis sich Abends eine leichte Brise aus SO. aufmachte, welche uns langsam vorwärts trieb. So also  schwand Nachts um 12 Uhr das Feuer von Helgoland, und wir waren in der weiten See. Es folgte ein herrlicher Tag, die Sonne schien warm, das Wasser lag so ruhig, dass es eine Lust war, vom Deck des Schiffes ins Weite zu schauen. Noch am Montag frischte der Wind ein wenig auf, so dass wir etwa 60 Seemeilen zurücklegten! Dienstag schwellte endlich eine steife Brise die Segel, und gerades Weges ging es im raschen Laufe der schottischen Küste zu, die am Mittwoch Morgen in etwa 25 Meter Entfernung durch die trübe Luft sichtbar wurde. Der Wind hat ein wenig nachgelassen, doch segeln wir noch immer mit einer Geschwindigkeit von etwa 8 Knoten voran. Wir kreuzten nun den Frith of Moray, und gegen 12 Uhr erschienen die hohen Scarabian Mountains. Immer mehr näherten wir uns der Küste, welche aber nur durch einen Nebelschleier sichtbar wurde. Im Hintergründe überragte Alles die Scarabian Mountains und den im landeinwärts gelegenen Mt. Morven; dicht vor uns lagen die Morven Hills und im Hintergrunde einer kleinen Bucht das Städtchen Wick (?) Nach Norden wurde das Panorama durch den senkrecht ins Meer fallenden Now Head abgeschlossen, auf dessen Gipfel sich ein hoher Leuchtthurm erhebt. In weiter Ferne sieht man jetzt die Orkney Inseln und bald werden wir in den Pentland Frith einlaufen, wo diese Nachrichten nach Deutschland gelangen werden.»  Dr. F. Boas.

Zurück