ahiarmiut: ein bewegendes schicksal
Die folgenden Aufzeichnungen beruhen auf persönlichen Berichterstattungen von Elders in Arviat sowie der Untersuchung von Frederic Laugrand, Jarich Oosten und David Serkoak, die im Mai 2006 einen Workshop in Arviat durchführten und die Überlebenden der Ahiarmiut zu ihrer Lebensgeschichte befragten. Zur ethnografischen Erforschung der Ahiarmiut hat der Schweizer Ethnologe Yvon Csonka besonders viel beigetragen! Fast alle im Bericht erwähnten Inuit-Persönlichkeiten haben sich in den 70er Jahren in Arviat als grossartige Künstler einen Namen gemacht und sind in der aktuellen Ausstellung vertreten.
Es war eine verzweifelte Situation, in welcher sich die Ahiarmiut im Jahre 1950 wiederfanden. Sie zwang die letzten Inuitnomaden zur Ansiedlung und dem Ende ihrer archaischen Lebensweise. Heute noch erheben die Ahiarmiut Anklage und erhoffen sich Anerkennung für ihr Leid seitens der Regierung. Was war geschehen?
In den 50er Jahren blieben die grossen Wanderzüge der Karibus in den Barren Grounds aus. Es war ein Ereignis, das sich in der Tundra öfters zugetragen hatte. Phasen von Überfülle an Nahrung wechselten sich im Leben der Inuit mit Zeiten von Nahrungsknappheit ab. In der Literatur der weissen Gesellschaft wird daher oft mit Staunen und Respekt über die Zähigkeit der Inuit berichtet, die in der Lage sind, lange Phasen ohne Nahrung zu ertragen. 1926 gab ein Beamter der RCMP in Arviat angesichts prekärer Hungersnöte zu Protokoll, dass Inuit dem Thema des «Verhungerns» keinerlei Beachtung schenken würden, auch wenn Sie gar nichts zu essen hätten.1
In den 50er Jahren entwickelte die damals noch fünfzig Menschen zählende Gruppe der Ahiarmiut sporadische Kontakte mit Angestellten einer Funkstation, die am Ennadai See, dem angestammten Gebiet der Ahiarmiut, vom kanadischen Militär eingerichtet worden war. Die Nähe der Weissen bedeutete eine gewisse Sicherheit für den nomadisch lebenden Stamm und gelegentlich teilte die Besatzung Nahrungsmittel oder arrangierte den Tausch von Fellen gegen Güter. Die vorherrschende Auffassung der kanadischen Regierung jener Jahre war jedoch, dass die Abhängigkeit der nomadischen Jäger von der weissen Zivilisation mit allen Mitteln verhindert werden müsse, damit die Ahiarmiut ihre Unabhängigkeit bewahren. Ein verhängnisvoller Entscheid wurde gefällt. Ohne Absprache mit den Betroffenen wurde eine Umsiedlungsaktion vorbereitet. Im Frühsommer 1950 landete ein Flugzeug am Ennadai See und verfrachtete die ahnungslosen Ahiarmiut mit ihren Familien ohne Hab und Gut an den hundert Kilometer entfernten Nueltin See. Es war eine überstürzte und schlecht vorbereitete Aktion. «Es kam ein Mann mit einem Bulldozer», erinnerte sich Job Muqyunnik, «er sagte, wir sollten unsere Zelte verlassen. [...] Er fuhr über unser Zelt, hin und zurück, und zerstörte alles, was wir hatten. Es war die traurigste Zeit meines Lebens. Wir hatten weder eine Tasse, ein Messer noch eine Axt, wir hatten gar nichts mehr.»
Die erfahrenen Karibu-Jäger sollten am Nueltin See zu Fischern gemacht werden. Es gab niemand, der den Ahiarmiut in ihrer Sprache erklärte, was das Vorhaben war. Im Gegenteil: die Ahiarmiut wurden mitten im Land abgesetzt, ihre Waffen, Zelte oder Kayaks für die Jagd wurden ihnen nicht nachgeschickt. Der Kälte ausgesetzt erkrankten alle Mitglieder des Stammes. «Jeden Morgen wachten wir auf und da war nichts. Der einzige Schutz waren die Zweige der Bäume, die wir ausgelegt hatten. Wir lagen auf dem blanken Grund und hatten keine Decken.», erinnert sich Alikashuak. «Nachdem wir einen Monat lang herumgelaufen waren, konnte mein Vater nicht mehr aufstehen. Es sagte uns, was wir machen sollten, weil er es nicht mehr konnte. [...] Wir folgten seinen Instruktionen und wenn wir Glück hatten, fingen wir einen einzigen Fisch. Wir schnitten ihn in so kleine Stücke, dass wir täglich ein Stück davon essen konnten. So hatten wir wenigstens etwas zu kauen.» Der Tod von vier alten Ahiarmiut zwang die Verbleibenden zu handeln. Im Herbst beschlossen sie, zu Fuss zu ihrem angestammten Siedlungsplatz zurückzukehren. Mehrere Monate wanderten die Ahiarmiut zurück durch unbekanntes Land und erreichten den Ennadai See etwa im Dezember 1950. Mary Ayaq erzählte:«Nur dank unserer Eltern fanden wir den Weg zurück in unsere Heimat, weil sie wussten wie man überlebt.» Bei ihrer Ankunft am Ennadai See fanden die Männer Karibus und das Überleben der geschwächten Ahiarmiut schien auf weiteres gesichert. «Als wir zuhause waren, gab es wieder viele Tiere: Karibu, Fisch. Wir hatten genug zu essen, als wir zuhause waren.» berichtete Eva Muqyunnik.
In den folgenden drei Jahren kehrte das unbeschwerte Leben in das Camp der Ahiarmiut zurück. Sie folgten wieder ihren Traditionen. In dieser Zeit lebte Geert van den Steenhoven zwei Monate lang beim Stamm und machte seine faszinierenden Aufzeichnungen2, die als letzte Augenzeugenberichte des nomadischen Lebens der Ahiarmiut gelten. Alles schien gut.
Doch im Januar 1956 verschlechterte sich die Situation erneut und sehr drastisch. Die Karibuherden wählten eine unbekannte Migrationsroute und auf den Jagdgründen der Ahiarmiut erschienen wenige Tiere. Erneut brach eine Hungersnot im Camp aus, auf die seitens der Regierung mit einer erneuten, unbedachten und unabgesprochenen Umsiedlungsaktion reagiert wurde. Am 24. Mai 1957 wurden zwölf Familien und sechs Schlittenhunde ohne Vorankündigung in ein neues Gebiet geflogen, diesmal an den nördlich gelegenen Hennik See. Für die Inuit war dies ein sehr ungünstiges Jagdgebiet, das sie aus Erfahrung kannten und das in ihrer Sprache die Bezeichnung ‚Hungerland’ trug. Doch die Meinung der Inuit wurde nicht eingeholt. In den Medien dagegen feierte man das Ereignis als kuriose Sensation. Die Umsiedlung wurde als freiwillige Entscheidung von «Canada’s most primitive citizens» dargestellt, die steinzeitlichen Jäger seien mit modernen Flugzeugen auf der Suche nach besseren Jagdgebieten, wurde gemeldet. Die Wirklichkeit sah anders aus: Ihre Kayaks wurden aus Platzgründen nicht transportiert und die Ausrüstung der Ahiarmiut war kläglich. Mit einer Essensration und Gasbrennern, die sie zuvor noch nie benutzt hatten, wurden sie am Hennik See abgesetzt und sich selbst überlassen. Die Vorräte waren umgehend aufgebraucht und die Menschen sassen im aufziehenden Winter an zugefrorenen Wasserläufen, in welchen keine Fische zu finden waren. Der Stammesführer Owladjut berichtete Farley Mowat: «Der weisse Mann befahl uns, die Zelte unter einem grossen Hügel aufzustellen. Wir wussten, dass das ein schlechter Platz ist. [...] Wir fanden keine Karibuspuren. Wir wussten, dass für lange Zeit keine Karibus hier waren, denn es gab keine alten Spuren. Nach einer Zeit kamen wir zu den Zelten zurück und beschlossen, umzuziehen weil wir uns vor den Geistern der Hügel fürchteten.»
Neunundfünfzig Menschen kamen nach kürzester Zeit wiederum an die Grenzen des Ertragbaren. Die Ahiarmiut waren in einem Landstrich ohne Karibus und damit ohne Nahrung und ohne angemessene Bekleidung auf sich gestellt. Ihr Camp lag fünf Tagesmärsche von jeglichen Kontakten zu Weissen entfernt, Hilfe war daher nicht erreichbar. Ihre Situation war ausweglos und glich einem Todesurteil. «Meine Schwiegermutter Nutaraluk hatte zehn Kinder. Jedes Mal wenn Anowtalik oder Muqyunnik ein Schneehuhn oder einen Hasen brachten, mussten diese unter allen aufgeteilt werden. Es kam so weit, dass wir die Felle verbrennen mussten, um die Häute zu kauen, weil es nichts zu essen gab», erzählte Eva Muqyunnik. Bis heute ist der Entscheid der Regierung für die Verlagerung der Menschen an diesen problembehafteten Ort verschleiert. Bereits sechs Monate nach der Aktion liessen Regierungsverantwortliche verlauten, dass die Aktion ‚ein grosser Fehler‘ war.
Kurz nach der Umsiedlung starben zwei wichtige Jäger an Unterernährung. Im Juni 1958 brach Evas Ehemann Muqyunnik zusammen mit Ioontna und Ohoto in einen Lagerschuppen von Mineuren ein. Sie entwendeten dort einen offenen Sack Mehl, um ihre hungernden Kinder zu versorgen. Die anderen Nahrungsmittel liessen sie dort. Am 2. August 1958 reisten Polizeibeamte an und verhafteten den 23-jährigen Muqyunnik, den 21-jährigen Iootna und den 37-jährigen Ohoto wegen Einbruch und Diebstahl. Von einem Tag auf den anderen hatte der ausgesetzte Stamm seine wichtigsten Jäger verloren, die bei der schwierigen Suche nach Beute behilflich sein konnten. Die Inuit verstanden nicht, dass sie ein ‚Gesetz des weissen Mannes‘ gebrochen hatten, da in ihrer Welt im Moment von Nahrungsknappheit jeglicher Anspruch auf Eigenbesitz verfällt. Alles gehört jedem, wer hungert nimmt etwas vom Vorrat der anderen, ohne zu fragen.
Die Verhaftung der jungen Männer demoralisierte die Ahiarmiut und hatte weitreichende Folgen. Bis zu diesem Zeitpunkt basierte ihre Organisation auf der Führung durch die erfahrensten Personen im Stamm. Damals waren dies Andy Owladjut und Elizabeth Nutaraluk. Ihr Status als ‚Elders’ basierte auf ihrem Wissen. Sie waren erfahren im Fährtenlesen, in Überlebenstechniken und Jagd. Ihre prekäre Situation hatte zur Folge, dass das traditionelle Führungsmuster zerbrach. In einer fremden Umgebung ohne Jagdwild war ihrem Führungsanspruch jeder Sinn entzogen. Die Prinzipien des Teilens untereinander wurden aufgegeben und jede Familie versuchte nun, auf eigene Faust zu überleben.
Innerhalb einer Woche dieses Jahres starben sieben Ahairmiut. Ein tragisches Delikt am Hennik See schreckte die Behörden auf. Kikkik, ein Mutter von fünf Kindern, erstach in Notwehr ihren Stiefbruder Ootuk, der kurz zuvor ihren Ehemann Hallauk erschossen hatte. Alle waren dem Hungertod nahe. Kikkik schleppte sich und ihre Kinder durch den arktischen Winter in der Hoffnung, das fünf Tagesmärsche entfernt liegende Padlei zu erreichen. Entkräftet und praktisch ohne Winterausrüstung konnte sie Yaha und dem Rest der Ahiarmiut, die ebenfalls aufgebrochen waren, nicht folgen. Nachdem sie mehrere Tage ohne Nahrung in einem behelfsmässig gebauten Iglu mit ihren Kindern ausgeharrt hatte, fällte sie, am Ende ihrer Kraft, den Entscheid, zwei ihrer Kinder zurückzulassen und weiterzugehen. Sie deckte ihre beiden Kinder mit Schnee zu und brachte die anderen drei fast bis nach Padlei, wo sie nach Tagen von einem Suchtrupp entdeckt wurde. Im zurückgelassenen Unterschlupf fand man ein totes Kind. Das zweite, Anacatha, lebte noch. Kikkik wurde des Mordes angeklagt und schliesslich vom Richter von jeder Schuld freigesprochen. Sie selbst sprach von diesem Moment an nie mehr über ihr tragisches Schicksal. Ihre Tochter, Elisapee Karetak, welche auf dem Rücken der Mutter überlebte und heute als Lehrerin in Arviat lebt, fand mit über vierzig Jahren zu den Wurzeln ihrer Geschichte zurück. Zusammen mit einem Filmemacher hielt sie diese Ereignisse vor wenigen Jahren in einem Dokumentarfilm fest, der in der Galerie zu sehen sein wird.
Die tragischen Erlebnisse führten zur definitiven Ansiedlung der Ahiarmiut in den Küstengemeinden und brachten das Ende des traditionellen Lebens der letzten Tundranomaden der kanadischen Arktis. Seit den 60er Jahren betätigen sich einige Ahairmiut in Arviat als herausragende Künstler. Ihre berührenden Skulpturen erzählen von ihrer Freiheit und ihrem Schicksal.
©J.Bromundt, Inuitgalerie, Zürich
Quellen:
1 Csonka, Yvon, «Les Ahiarmiut, À l‘écart des Inuit Caribous», Neuchâtel,1995, S. 234 ff.
2 Van den Steenhoven, Geert, «Leadership and Law among the Eskimos of the Keewatin Discrict», Leiden, 1962, S.27. Siehe auch: «Research Report on Caribou Eskimo Law», Den Haag, 1955, S.18ff.
3 In: Laugrand, F., Oosten, J., Serkoak, D., «Relocating the Ahiarmiut from Ennadai Lake to Arviat 1950-1958» In: Collignon B. & Therrien M. (eds.), Orality in the 21st century: Inuit discourse and practices. 15th Inuit Studies Conference, Paris INALCO, 2009.